Sommernormalität in Warschau

POLIN - Museum of the History of Polish Jews ©Paul Divjak

POLIN – Museum of the History of Polish Jews

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 08_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»I’m passionately involved in life; I love its change, its color, its movement.
To be alive, to be able to see, to walk, to have houses, music, paintings – it’s all a miracle.« Arthur Rubinstein

Wir sitzen im Speisewagen nach Warschau und verkosten uns durch die Speisekarte. Es gibt polnisches Frühstück, dann griechischen Salat, später Piroggen, Apfelspalten und viel Kaffee. Die Landschaft zieht vorbei. In der Ferne entdecken wir in der tschechischen Ebene scheinbar verlassene, karge, gerüstartige Siedlungen, immer mehr. Der nähere Blick zeigt: Es handelt sich um Dörfer, die der Juni-Tornado verwüstet hat. Ganze Landstriche sind betroffen; zerdrückte, umgekippte Autos, geknickte Bäume, abgedeckte Häuser. Bagger bearbeiten Berge von Müll und Hausrat. Freiliegende Dachstühle werden repariert, die Feuerwehr ist im Einsatz, Menschen sind in verwüsteten Weingärten zugange. Dann mit einem Mal ist der Spuk unvermittelt vorbei; Wiesen, Felder, Wälder.

In Warschau begrüßen uns der bunt erleuchtete Pałac Kultury und nächtliche Sommerluft.
Für die nächsten Tage besteht Hitzewarnung. Die Sonne brennt auf die Stadt nieder. Auf dem Rondeau der Aleje Jerozolimskie steht sie noch, die vor 19 Jahren von der Künstlerin Joanna Rajkowska errichtete artifizielle Palme – nebst dem Kulturpalast so etwas wie ein klimawandeladäquates Wahrzeichen der Stadt. Die Installation trägt den Titel Greetings from Jerusalem Avenue.

Der Koloss des POLIN, des Museums für die Geschichte der polnischen Juden, erhebt sich auf dem Areal des ehemaligen Ghettos gegenüber dem Monument, vor dem Willy Brandt 1970 mit seinem historischen Kniefall symbolische Diplomatiegeschichte geschrieben hat.

Im Inneren des Museums, dessen Eingangshalle, obgleich mit massivem, hölzern anmutendem Stein verkleidet, durch seine organischen, wellenartig-ineinanderfließenden Formen fasziniert, sorgt in Folge nicht nur die die extreme Klimatisierung für Gänsehaut.

Große Glas-Screens im Entree, auf denen Silhouetten eines nebelverhangenen Waldes samt vorbeihuschender Tiere projiziert werden, bilden den märchenhaften Einstieg in die jüdische Besiedelungsgeschichte des Gebiets des heutigen Polens („Polin“, im Deutschen so viel wie „hier kannst du ruhen“).

Die Vermittlung setzt auf historische Artefakte, seltene Judaica, Illustrationen von Handelswegen, Darstellung der Besiedelung, von Lebensalltag und Gemeinschaft, von Wachstum und kultureller Blütezeit sowie die territorialen Veränderungen und Konflikte in der Rzeczpospolita.

Szenografisch werden Marktplatz, Gasthaus, Stube und eine Replika der detailgenauen, handbemalten Holzdachkonstruktion der Synagoge von Gwoździec erlebbar gemacht. Die BesucherInnen passieren die weitläufige Kulisse einer jüdischen Gasse mit Kopfsteinpflaster, Laternen und Fassadenprojektionen in Schwarzweiß; Fenster zeichnen sich ab, Läden und Reklameschilder. Warmes Licht dringt aus dem Portal des Kinos „Fama“, in einem Tanzsalon spielt leise Grammophonmusik – und hinter der nächsten Ecke erfasst uns die Aufbereitung der unfassbaren Brutalität des Nationalsozialismus mit Segregation, gesetzlich legitimierten Sanktionen, Enteignungen, Verschleppungen, Massenmord – der Abgrund des Holocausts. In engen, abgeschrägten, niedrigen Betonräumen wird Geschichte vermittelt, der sich polnische Politiker heute zu entziehen versuchen. Erst jüngst wurde das POLIN zum Politikum, die neue Leitung wurde vom Kulturministerium bestimmt, PIS hat mit Gesetzesänderungen bezüglich des Umgangs des Landes mit dem Holocaust sowie in Bezug auf Restitutionszahlungen einmal mehr für Schlagzeilen gesorgt.

Draußen scheint die Sonne. In Warschau genießen die Menschen den Sommer; am Ufer der Weichsel, in Restaurants, Bars und in den Gastgärten vor den Lokalen auf der Nowy Świat; Shishas verströmen ihr Aroma, Liegestühle laden zum Verweilen bis in die Morgenstunden ein.

Nach einem Zwischenstopp im Restaurant Warszawa Powile in einer ehemaligen PKP-Ticketverkaufsstelle aus den 1950er- Jahren besuchen wir einen legendären Jazzclub. Die MusikerIn- nen improvisieren, begeistern das Publikum. Die Gäste begrüßen einander lachend mit Wangenküssen, umarmen einander. Es ist, wie nach den großen Ferien, damals: Das lang ersehnte Wiedersehen im Herbst mit den besten SchulfreundInnen. – Eine Freude, die potenziell ansteckend sein kann.

[wina - 08–2021]



Die Schönheit der Leere

Museum of Emptiness, St.GallenWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2016 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„There are moments in our lives, there are moments in a day, when we seem to see beyond the usual.“ Robert Henri („The Art Spirit“)

In St. Gallen hat die in Israel geborene und in der Schweiz lebende Künstlerin Gilgi Guggenheim dieser Tage ihr Museum der Leere eröffnet. Einen ganz speziellen Ort, der durch Abwesenheiten glänzt und dazu einlädt, die Fülle der Leere zu erleben. — mehr —


Alles bleibt wie´s ist

"Breaking News / Amnesia" ©Paul Divjak

“Breaking News / Amnesia” ©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2019 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“ Kurt Tucholsky

Sie fordern unsere Aufmerksamkeit, wollen unsere Stimmen, um sich dann weiter in unnötigen Animositäten und Machtkämpfen zu verzetteln, Angst in Bezug auf Verteilungsgerechtigkeit und die Zukunft zu kreieren und geeintes Handeln in Bezug auf dringlichste, die Menschheit herausfordernden Thematiken zu verunmöglichen. Diese nicht enden wollende Polit-Nonsens-Show auf allen Kanälen ist unerträglich. — mehr —


R.I.P

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„I’m walking through deep water / I have no time to lose …“ Arthur Cave (2000-2015)

Ganz allgemein ist vom Verdrängen des Todes in unserer Kultur die Rede, dabei haben wir es auf der einen Seite mit einer Privatisierung des Sterbens und der professionalisierten, institutionalisierten Verwaltung des Todes und auf der anderen mit einer dauerhaften Präsenz des mediatisierten Sterbens zu tun.

Die Meldungen über Krieg, Terror, menschengemachte und naturbedingte Katastrophen, Flüchtlingselend und Hungersnöte gehören zum Medienalltag; der beständige Todes-Nachrichtenfluss kratzt an unseren Wahrnehmungsfiltern.

Der Tod ist allgegenwärtig in Nachrichten, Filmen, Games und Co.; die Unterhaltungsindustrie ist gerade zu besessen von Inszenierungen der Gewalt, des Kämpfens, Tötens und Sterbens. Und uns KonsumentInnen sind diese Repräsentationen des Todes wohl gleichsam Nervenkitzel und willkommener Bann, ganz so als ließe sich, – gleich einem techno-schamanistischen Schutzzauber –, der eigenen Sterblichkeit – zumindest eine Zeitlang – ein Schnippchen schlagen, die Todesangst ein wenig besänftigen. — mehr —


Das Rumoren der Archive

Zettelkasten (Literaturhaus Wien) ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 7+8_2015 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Eine Gesellschaft, die sich eine offene und freie Zukunft wünscht, muss daher über eine Kultur verfügen, die nicht auf dem Verdrängen und Vergessen der Vergangenheit beruht …“ Mario Erdheim

Dem Vergessen und Verdrängen wird aktuell Erinnerungsarbeit entgegengesetzt. Archive werden geöffnet, das Material drängt ans Licht.

Bevor der Morzinplatz im Zuge einer Neugestaltung des Kais in naher Zukunft möglicherweise überplattet wird, „um Platz für Freizeitaktivitäten und Raum für künstlerische Gestaltung“ zu schaffen, und somit schon bald buchstäblich Gras über die immer noch klaffende Lücke gewachsen sein könnte, standen jüngst genau dort ausgedehnte Grabungsarbeiten am kollektiven Gedächtnis – oder besser am nationalen Konsensus (Susan Sontag) –, und die Auseinandersetzung mit vergessener und verdrängter Geschichte und dem allmählichen Wandel der Gedenkkultur auf dem Programm. — mehr —