WERK, BAUEN + WOHNEN 6_2008 | KOLUMNE | PAUL DIVJAK
Wenn einem beim Spaziergang entlang eines glasklaren Baches in den Schweizer Alpen nicht seltene Wiesenblumen, sondern unvermittelt Golfbälle unterkommen, dann kann auch St. Moritz nicht mehr weit sein.
Ich nehme die Rolltreppe hinauf, direkt ins Zentrum der Gemeinde. Noch ein paar Schritte und das Portal des Palace Hotels gerät ins Blickfeld.
Verabredet zum Abendessen mit Freunden, bin ich mit meinen Gedanken ein paar Tausend Kilometer weit entfernt, in der Wüste, an einem möglichen Drehort, um genauer zu sein, und so öffne ich eine falsche Türe. – Mit einem Mal stehe ich im Wirtschaftstrakt des Hotels. Keine Vergoldungen, keine Verzierungen, keine schweren Vorhänge: ein karger Gang, schon länger nicht mehr ausgemalt, einfach beleuchtet; abgeschlagene Türen und rundum sichtbare Reduktion auf das Notwendigste. Fern sind die holzvertäfelten Decken, die hohen Säle, weitläufigen Räume und überbordenden Interieurs. Das koloniale Mobiliar, der historisierende Pomp, sämtliche Accessoires, die Exklusivität verheissen – jegliche Inszenierung des Mondänen: all das ist hier verschwunden.
Hinter den Kulissen des 1896 eröffneten Hotels muss ich an die letzte Premiere der Ära Peymann im Wiener Burgtheater denken. Auf dem Programm stand Peter Handkes «Die Fahrt im Ein- baum oder Das Stück zum Film vom Krieg». Damals hatte ich mich im Rahmen der anschliessenden Feier, zunächst aus Verzweiflung über die Inszenierung und anschliessend glücklich, ob der Begegnung mit freundlichen Menschen, im Pausenfoyer betrunken und mich anschliessend, in dem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Teil des Hauses, das wenige Jahre vor dem Palace Hotel eröffnet worden war, ausweglos verlaufen. Die Lichter des einstigen K&K-Theaters waren bereits gelöscht worden, und so irrte ich im spärlichen Restlicht durch die menschenleeren Korridore des Backstagebereichs, der an sozialistische Gewerkschaftsbauten aus den 1960er Jahren erinnerte. Es war dunkel und weit nach Mitternacht, alle Türen ins Freie waren verschlossen. Zum Glück begegnete ich irgendwo, irgendwann einer Silhouette, die sich alsbald als der scheidende Direktor selbst entpuppte. Der Mann nahm sich meiner an und führte mich sicher über die unsichtbare Schwelle zurück in die Räume der Repräsentation: hin zu den Parkettböden, roten Teppichen, steinernen Treppen – und zur letzten noch geöffneten Pforte, nach draussen, in die Nacht.
Verirrst du dich, stehst du mitunter plötzlich mitten im Realen. Und bisweilen handelt es sich beim Realen auch um eine Wüste.
Die Idee, die mich in jenem Sommer im Engadin beschäftigte, war die zu einem Drehbuch. Ein us-amerikanischer Produzent hatte mich dazu angeregt, einen Film in den ehemaligen Bauten bekannter Hollywood-Produktionen im marokkanischen Ouarzazate umzusetzen. Inmitten der Wüste liegt dort der Ursprung bedeutender popkultureller Projektionen. «Gladiator», «Troja», «Cleopatra», «Kingdom Of Heaven»: von der römischen und griechischen Antike über ägyptische Kultstätten bis zu mittelalterlichen Versatzstücken hatte die Wüstenlandschaft mit ihren fatamorganagleichen Konstruktionen bereits für so manche epische Blaupause der Historie, wie das Mainstreamkino sie zeichnet, Pate gestanden.
Im Schatten dieser Monumentalbauten, so mein Gedanke, liesse sich doch mit einfachen Mitteln ein Horrorszenario verwirklichen: Ein Filmteam reist in die Wüste, um in den vorhandenen Kulissen eine Low Budget-Produktion zu drehen. Die gebölzten Replika jedoch fordern nächtens blutigen Tribut. Tempelanlagen und heilige Stätten, aus Holz gezimmert, ausgeschäumt und hohl, werden aktiv und treten beseelt aus ihrer Rolle als simple Kopien. Sukzessive verschlingen sie die Eindringlinge, deren Phantasie sie entsprungen sind. An jenem Ort in der Wüste, umgeben von Kulissen, empfiehlt es sich dann nicht, unabsichtlich die falsche Türe zu öffnen, oder sich im Dunklen zu verlaufen. Vom Produzenten, der von dem Plot zunächst angetan war, habe ich im Übrigen nie wieder etwas gehört.
[werk, bauen + wohnen 6.2008]