Archäologien der Gegenwart

©Paul Divjak

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2019 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

Die Tragik und Absurdität des Weltgeschehens wird weiterhin durch polarisierende soziale Medien verstärkt, der tägliche Wahnsinn garantiert Erregungspotenzial und produziert phantasmagorische Leere.

Wir setzen wie gehabt auf den ökonomischen Imperativ, der die Interessen der Wirtschaft über alles stellt und als Lösung für global dringlichste Probleme Verdrängung und Ablenkung durch Konsum nahelegt; business as usual – what else (Duldungsstarre einer Schicksalsgemeinschaft).

Das jeweils größte Negativspektakel produziert immer noch die stärksten Bilder, dominiert und lenkt die Nachrichten, die unverfrorenste Aussage garantiert bis auf Weiteres die größte Aufmerksamkeit.

Und doch gibt es die leisen Parallelbewegungen, Gegenströme des am Gedeihlichen Orientierten. Der Blick fällt mit einem Mal auf dieses Bild, das nicht mehr aus dem Kopf gehen will, da es Bezüge herstellt, die europäische Identität und Kultur neu konnotiert: eine Bauernstube, holzvertäfelt, ein Tisch, zwei Bänke. Vor den Fenstern: ein Rettungsschiff, ein Boot, Menschen im Wasser, Flüchtlinge in Seenot. Auf der Fotomontage (Foto: Julia Gaisbacher, Bildbearbeitung: Christoph Höbert/dform) bricht der Wahnsinn der Normalität in die heimatliche Idylle ein; der erste Eindruck von azurblauer Hochseeromantik wird jäh gebrochen, steht doch das Wasser auch den BetrachterInnen bis zum Hals.

Eine ramponierte Schwimmweste wird zum musealen Ausstellungsstück, ein Notizheft, eine gebrauchte Haarbürste, Kinderkleidung in unterschiedlichen Größen, abgetragene Flip-Flops, ein Mobiltelefon; Dinge des Alltags, Objekte, die von Fluchterfahrungen und Migrationsbewegungen erzählen, zurückgelassen und gefunden an Orten des Transits, an den Rändern Europas.

Was ausgestellt ist, ist auf das einzelne Sein Verweisendes aus der Dingwelt. Jedes Fundstück ist gleichsam Beleg einer bedrohten Existenz. Einer, die Gefahr gelaufen ist und Zuflucht gesucht hat.

Die Kontextualisierung verortet die profanen Gegenstände, die zu historischen Artefakten avancieren, in die sich individuelle Geschichten und kulturelle Bedeutungen einschreiben.

Das einstige Hab und Gut der Entwurzelten wird über den Umweg seines Müllcharakters zum Teil einer Sammlung, die ungeahnte Wechselwirkungen entfaltet und unter dem Titel Die Küsten Österreichs. Die neue Schausammlung des Volkskundemuseum Wien vom Status quo der europäischen Gegenwartskultur erzählt.

In der Gegenüberstellung mit klassischen Sammlungsobjekten treten die Dinge miteinander in Kommunikation, alles korreliert mit allem; Themenfelder werden erweitert, aktualisiert, neue Beziehungen hergestellt. Bruchstücke, Trümmerteile fügen sich als Dokumente zusammen und driften auseinander in dieser Signifikantensammlung des Zusammengelesenen, in diesem Versuch einer Archäologie der Gegenwart, der Etablierung eines Möglichkeitsraums, eines Labors für veränderte Narrative. – Was erzählen wir uns über uns selbst und über „andere”? Welches Europa, welche Welt wollen wir denken und gestalten?

Kuratiert wurde die Erweiterung der Sammlung des Volkskundemuseums Wien im Übrigen von einem KuratorInnenkollektiv im Rahmen von Collegium Irregulare, einem Fellowship-Programm für hochqualifizierte Menschen, die um Asyl ansuchen, von Science Communications Research (Alexander Martos) in Kooperation mit WIENWOCHE.

Bei dem engagierten Projekt handelt es sich um ein konzeptives Kleinod, um eine zeitgemäße Intervention, eine behände Thematisierung von Inklusion und Exklusion, von Wertlosigkeit und Wert(steigerung) in unserer Gesellschaft.

Die aktuelle Befragung von Objekt und Interpretation, von Kultur und Identität, von Geschichte und Ethik, die hier geleistet wird, lässt einen ethnologischen Museumsdampfer à la Weltmuseum mit seiner millionenteuren Dauerpräsentation, seiner auf Jahre einbetonierten Schausammlung aus Objekten fragwürdiger Provenienz, drapiert in alten Schaukästen, präsentiert in abgedunkelten, verwaisten Räumen, noch älter aussehen, als es zunächst den Anschein gemacht hat.

Die Sehnsucht nach gewohnten Zuordnungen, der Wunsch nach Beibehaltung vertrauter Blickwinkel und Gegensatzpaare ist verständlich, doch nur ein Einlassen auf eine differenziertere Wahrnehmung jenseits von tradierten und internalisierten Annahmen über die „Weltordnung” ermöglicht verändertes Denken und Handeln.

[wina 9_2018]



Radikale Beschleunigung

Spinning the World ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 3_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“World, hold on.” Bob Sinclair

Ein neues Narrativ wird über die Vereinigten Staaten, wird über die Welt gestülpt. Es geht Schlag auf Schlag. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht.

Der Milliardär, der sich als Homo Politicus verkleidet hat, gibt ein Tempo vor, als gälte es die Demokratie noch im ersten Firmenquartal in eine Autokratie zu verwandeln. Im Fokus: die eigenen Dividenden, jene der engsten Vertrauten und die Überzeugtheit, dass die reduzierte Darwin-Überlieferung des Survival of the Fittest ein Naturgesetz sei. — mehr —


Was für ein Anachronismus!

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Der Nationalismus ist eine Ideologie, die einen Feind braucht; er kann ohne ein anderes, gegen das er sich stellt, nicht existieren, wer oder was auch immer dieses andere sein mag.“ Slavenka Drakulic

Die mediale Landschaft wird aktuell von politischer Seite mit groben Werkzeugen bearbeitet, radikalisierte Rückgriffe und sprachliche Übergriffe garantieren Aufmerksamkeitseffekte und das erwünschte Agenda-Setting.

Was aktuell Form angenommen hat, ist ein offener Kampf um die Konstruktion der Deutungshoheit. Rechtspopulistische und extreme Schachzüge, die auf unsere bewusste und unbewusste Sicht auf die Wirklichkeit einwirken, versuchen, Alltag und Staat nach einem bestimmten Wertemuster zu organisieren. Und es ist keine Frage: Das ihnen zugrundeliegende Modell ist ein ewig gestriges. — mehr —


Im Schlund

Chanel store, Vienna ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„We´re robots, made of robots, made of robots.“ Daniel Dennett

Die so genannte Zeitlinie der Zuckerberg´schen Prosumentenplattform hält einen tagtäglich auf Trab. Schließlich gilt es, nichts zu versäumen, Klicks und Likes zu verteilen, soziales Engagement zu beweisen und ein paar persönliche Spuren zu hinterlassen. Und mitunter platzen all die kleinen Filterblasen, und wir finden uns wieder in einer Monsterbubble, in der grelle Infohäppchen aufpoppen und um unsere Aufmerksamkeit buhlen: Fakten, Fiktionen und herrschende Narrationen wirken zeitgleich auf uns ein, erzählen von einer Welt, die mit jedem Weiterscrollen das Parallelgeschehen noch absurder erscheinen lässt. — mehr —


Island in the sun

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 05_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Von der Familie bis zur Nation – jede Gruppe von Menschen stellt eine Inselwelt dar, wobei jede Insel ein Weltall für sich bildet.“ Aldous Huxley

Selbst wenn hier kein Vogel mit menschlicher Stimme spricht, wie in Aldous Huxleys Roman Eiland, so erinnert in der Reggae-Bar auf der kleinen südostasiatischen Insel, doch manches an Pala, jene verbotene Insel, auf der Erdenglück trotz der sozialen und politischen Probleme noch möglich ist. Das Glück freilich bleibt temporär, es ist flüchtig und erschließt sich auch nur einer Schar vom Leben Begünstigter. Sie kommen aus der ganzen Welt. Es sind Privilegierte, ausgestattet mit den notwendigen kulturellen, finanziellen und zeitlichen Ressourcen. Ihre Sehnsucht: permanent vacation, sabbatical forever. — mehr —