Der Wahnsinn der Normalität

Graffiti / Tel Aviv ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 12_2015 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Wo die Ideologie der Macht gilt, wird das Selbst von seinem inneren Kern und damit auch von den Wurzeln seiner historischen Erfahrungen abgeschnitten …“ Arno Gruen

Die täglich auf uns einwirkenden Nachrichten verändern die Wirkung von medial etablierten „Heile Welt“-Konstruktionen. Inszenierungen wie jene der Werbeindustrie scheinen immer absurder angesichts der aktuell wachsenden Transitzonen der Ungewissheit.

Seit Monaten sehen wir als Medienkonsumentinnen und -konsumenten überfüllte Schiffe, kenternde Boote, Menschen, unterwegs zu Wasser, zu Land, auf Feldwegen, Straßen, Menschen, notdürftig untergebracht in Zelten, Turnhallen, Containern. Wir sehen Kinder, die im Freien, in Kartons, schlafen. Es fehlt mitunter am Notwendigsten, an Wasser, Nahrung, Kleidung, Toilettenartikel, Dingen des Alltags.

Und im Fernsehen läuft wieder einmal jener TV-Spot einer Direktbank: Ein bekannter Ex-Rennfahrer, erfolgreicher Geschäftsmann mit rotem CI-Kapperl, seit über 40 Jahren beliebtes Werbetestimonial, inmitten einer Schar von Menschen, beim Check-in. Plötzlich die erschütternde Meldung von Seiten des Bodenpersonals: „Sie haben drei Kilo Übergepäck. Tut mir leid, das kostet extra.“

„Moment“, sagt der findige Sparefroh. Und um den drohenden Gepäckszuschlag zu verhindern, entnimmt er dem Übergepäckskoffer Kleidungsstücke, die er in der nächsten Einstellung schichtweise übereinander trägt. Stolz vermeldet er mit dem Brustton eines von seiner eigenen Gerissenheit überzeugten Egodarstellers den unvermeidlichen Slogan: „Ich hab’ doch nichts zu verschenken.“

Die Menge der privilegiert Reisenden ringsum lacht reaktiv. Und es ist diese demonstrativ inszenierte, unreflektierte Unterwerfung und Zustimmung der Gruppe, die der angewandten Dummheit und dem dumpfen Konformismus der stellvertretenden Masse Ausdruck verleiht.

Der Claim sitzt

„Ich hab’ doch nichts zu verschenken.“ Was für ein Hohn. Wie zynisch, selbstbezogen und rückwärtsgewandt angesichts der aktuellen Lage der Welt und der Ereignisse in unserer unmittelbaren Umgebung. Es ist, als hätten sich die Auftraggeber und die verantwortlichen Kreativen in ihren systemaffirmativen Isolationskammern der Markt- und Wachstumsorientiertheit für immer in ihrem eigenen Verblödungsnarrativ des Werbeuniversums verirrt.

Unsere Überzeugungen erschließen Handlungsspielräume – und sie verhindern sie. Der Gedanke des Mangels, des „Ich-hab’-doch-nichts-zu-verschenken“, verunmöglicht eine naheliegende Geste, die ein mögliches Miteinander evozieren könnte.

Stellen wir uns einmal eine veränderte Auflösung der kurzen Episode am Airport vor, eine, die über eine hedonistisch-konsumistische Geiz-ist-geil-Haltung hinausginge und ein Neudenken hinsichtlich der Möglichkeiten von Besitz und Gemeinwohl platzieren würde. Dafür bräuchte es freilich einen neuen Claim. Ein, hinsichtlich der nächsten Gesellschaft, wie der Soziologe Dirk Baecker sie denkt, souveräner, der vertrauensbasierend Handlungsoptionen öffnen würde, könnte lauten: „Ich habe so dermaßen viel, dass ich es mir ganz selbstverständlich leisten kann, an andere zu denken.“

Gewohntes steht in Frage

Die Ängste nehmen zu, und unsere Logik „macht einen Feind erforderlich“ (Gruen).

Maßnahmen werden getroffen; Zäune werden hochgezogen, Stachelbandrollen werden ausgelegt, Sprachbarrieren werden errichtet. Und es fehlt am Bewusstsein für die Wirkmächtigkeit von Sprache und Bildern.

Intertextualität wird wirksam; Bedeutungsebenen verschieben sich, Subjekte und Objekte pochen auf Referenzen oder sperren sich gegen bisherige Tradierungen. Neue Lesarten drängen sich auf, Zeichen und Begriffe stehen nachhaltig zur Diskussion.

Die täglich auf uns einwirkenden Informationen verändern medial etablierte „Heile Welt“-Konstruktionen. Und Inszenierungen von Parallelwelten wie jener der Werbeindustrie scheinen immer absurder angesichts der aktuell wachsenden Transitzonen der Ungewissheit.

Vor dem Hintergrund der Bilder von Flüchtlingstrecks nach und durch Europa schaltete ein Fruchtsaftunternehmer arglos die TV-Werbung „Wenn Orangen reisen“, in der stop-motion-animierte Orangen sich mit Regenschirm und lustigem Österreich-Fähnchen gleichsam auf Wanderschaft machen und im Touristen-Gänsemarsch die Bildfläche betreten. Dazu die Stimme aus dem Off: „Der größte Traum von Orangen ist, einmal im Leben nach Österreich zu kommen, um die berühmte Karaffe von Rauch zu sehen. – Und die besten von ihnen dürfen sogar hinein …“

[wina - 12.2015]



In der Stimmungsfalle

©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 12_2016 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Das Sichtbare verbirgt das Unsichtbare.“ – Pierre Bourdieu

Die Radikalisierung der Sprache, des Denkens, des Handels ist heute Alltag geworden in einem Europa, in dem medial vor allem eines regiert: das Schüren von Ängsten.

Was uns umgibt, sind Bedrohungsszenarien in Wort und Bild. Wie naheliegend sind da der Rückzug auf das Eigene, das Vertraute, das vermeintlich Immer-schon-so-Gewesene und dessen Verteidigung gegen das andere, das Fremde.

Die Medien rühren kräftig im Sud der Negativmeldungen, bedienen sich ihre Verstärkerfunktion, kochen Positionen und Ereignisse hoch, servieren uns unsere tägliche Dosis des Wahnsinns der Normalität. — mehr —


Zimmer mit Aussicht

Hochhaus Herrengasse, Terrasse ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 11_2012 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit.“
Gaston Bachelard

Der Concierge begrüßt einen freundlich aus seiner verglasten Loge; wir befinden uns nicht in einem Appartementhaus in New York, sondern mitten im Stadtzentrum von Wien, in der Herrengasse.

Beim ältesten Hochhaus der Stadt, errichtet vom Architektenteam Theiss & Jaksch Anfang der 1930er-Jahre, handelt es sich um eine stadtplanerische Meisterleistung, sieht man ihm doch aufgrund seiner abgestuften Terrassenbauweise die Höhe von 53 Metern von den engen Straßen und Gassen der Innenstadt aus nicht an. Nichtwissende Passanten würdigen die Fassade keines weiteren Blicks. — mehr —


Die Bilder können ja nichts dafür

Kunsthaus Zürich

Kunsthaus Zürich, Sammlung Merzbacher

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 11_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“Die Zukunft ist mir der Lebensweise der Viren näher verwandt als mit der des Menschen oder seiner Denkmäler.” (Emanuele Coccia)

Das offizielle Zürich ist stolz, wurde doch jüngst der Erweiterungsbau des Kunsthaus Zürich, der jahrelang für Diskussionsstoff gesorgt hatte, feierlich eröffnet. Auf dem Programm standen Previews für die Financiers und VIPs, exklusive Dinners für Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft und Kultur – und ein Open-House-Weekend für die Bevölkerung. Nach der obligaten Covid-Zertifikatsüberprüfung samt Identitätscheck darf das massive Portal, das anmutet wie das repräsentative Entree einer Schweizer Großbank, betreten werden. Im riesenhaften Foyer herrscht lebhaftes Getümmel – ganz großer Luxusbahnhof, Eventcharakter inklusive. Menschen drängen sich maskenlos dicht aneinander durch die hohe Eingangshalle, das massive Treppenhaus, die Ausstellungsräumlichkeiten, die endlosen Flure, vorbei an den Schätzen der Kunstgeschichte und durch die aktuelle Ausstellung Earth Beats, eine Themenschau zum Wandel des Bildes der Natur in der Kunst. — mehr —


Was für ein Anachronismus!

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Der Nationalismus ist eine Ideologie, die einen Feind braucht; er kann ohne ein anderes, gegen das er sich stellt, nicht existieren, wer oder was auch immer dieses andere sein mag.“ Slavenka Drakulic

Die mediale Landschaft wird aktuell von politischer Seite mit groben Werkzeugen bearbeitet, radikalisierte Rückgriffe und sprachliche Übergriffe garantieren Aufmerksamkeitseffekte und das erwünschte Agenda-Setting.

Was aktuell Form angenommen hat, ist ein offener Kampf um die Konstruktion der Deutungshoheit. Rechtspopulistische und extreme Schachzüge, die auf unsere bewusste und unbewusste Sicht auf die Wirklichkeit einwirken, versuchen, Alltag und Staat nach einem bestimmten Wertemuster zu organisieren. Und es ist keine Frage: Das ihnen zugrundeliegende Modell ist ein ewig gestriges. — mehr —