DER STANDARD | EDLINGER & DIVJAK | GEMISCHTER SATZ
Divjak: Herr Edlinger, “Quo Vadis, Europa?”, heißt es an einer Stelle in Jean Luc Godards Film Socialisme aus dem Jahr 2010. (Eine Empfehlung in jedem Fall: der wunderbar rasante Ein-Minuten-Trailer auf Youtube!) Jetzt liegt die Costa Concordia, die auf Zelluloid gebannte, mondäne Protagonistin des französischen Altmeisters, die als Sinnbild des dekadenten, westlichen Lebens durch die unruhigen Gewässer des eklektizistischen Autorenkinouniversums unterwegs war, seitlich aufgeschlitzt und gekentert vor der Festung Europa.
Für gewöhnlich sind es kleinere Boote, desolate Kähne, die vor der Küste Italiens in Seenot geraten. Hunderte, tausende Passagiere auf der Suche nach einem besseren Leben sind bisher dabei zu Tode gekommen. Bei diesen alltäglich gewordenen Katastrophen fragt man nicht nach der Schuld des obersten Fährmanns.
Das Material und die “Über- ladung”, somit die Passagiere selbst, werden für die Desaster verantwortlich gemacht. Die Überlebenden werden nicht zu Talkshow-Helden von heute hochgejubelt. Handelt es sich um elternlose junge Menschen, erklärt man sie in Österreich zum Drüberstreuen gleich mal zu “Ankerkindern”.
Der Kapitän dersUnglückskreuzers soll die kleine Exkursion in Richtung Festland ja einem Crewmitglied zuliebe unternommen haben: “Kleine Überraschung, Antonello!” – Rumms. Auch diesbezüglich schließt sich die metaphorische Klammer: Wie oft setzen gesellschaftliche Entscheidungsträger aus Gewohnheit unbedachte Handlungsschritte, die für uns alle an Bord des gegenwärtigen Geisterschiffs “Vereintes Europa” verdammt große Wirkung zeitigen können?
Edlinger: Herr Divjak, die Metapher des Geisterschiffs gefällt mit gut. Erstens hallen in den Kajüten des alten Tankers Europa immer noch Ideen nach, die weder tot noch lebendig sind – der Geist des Sozialismus und der Solidarität etwa, wie er auf einem im Hamburger Hafen vom Eigner verlassenen Frachtschiff im irren Agitprop-Film Hölle Hamburg durch allerhand Voodoo-Zauber wiedererweckt wird.
Zweitens sind Schiffe und ihre aus aller Welt stammenden Besatzungen vielleicht die letzten Reservate des herumgeisternden Internationalismus. Denn das Meer verteilt – genauso wie das die Schiffe um die Welt schickende Kapital – keine Staatsbürgerschaften.
Und drittens symbolisieren Schiffe Wandel pur: Wenn nach der x-ten Reparatur am anderen Ende der Welt die letzte Schraube ausgetauscht ist und ein Schiff mit neuer Besatzung “daheim” in einer neuen Stadt mit neuen Menschen einläuft, ist der Kahn dann noch derselbe? Und könnte man sich diese Metamorphose nicht auch anhand eines “Geisterschiffs Europa” und seinen Passagieren vorstellen?
[DER STANDARD | Printausgabe, 21./22. Jänner 2012]