DER STANDARD | EDLINGER & DIVJAK | GEMISCHTER SATZ
Edlinger: Es war ärger als Nipplegate, und trotzdem hat sich bis heute keiner aufgeregt. Nicht alles war perfekt bei der Leistungsschau des Madonna-Pop von 2012 in Indianapolis. Wenn man sich das “Junge-Römer-und-alte-Kutten-treffen-Lack-und-Leder-Cleopatra-aus-dem-Jahr-2012-vor-Christi”-Musicalfurioso auf Youtube ansieht, bemerkt man bei ca. sechs Minuten Ungeheuerliches: Ein Bein von Madonna streckt sich in die Luft.
Es kreist, zuckt und schüttelt sich. Ich glaube, es verlangt nach oder bettelt um Ergreifung durch den zuständigen Tanzbediensteten, doch der ist offenbar kurz neben sich. Das Madonna-Bein muss also nach einer gefühlten Ewigkeit von einer Sekunde unverrichteter Dinge wieder am Boden landen. Von wegen “Express yourself”! Für jemanden wie Madonna, die bekanntlich Kindermädchen schon aus viel geringeren Gründen geteert und gefedert hat, ist so etwas wahrscheinlich fast so schlimm wie die Ahnung einer ersten Gesichtsfalte mit 75.
Jede Wette, dass der Tanzbedienstete schon seine Koffer packen musste! Ein Popmoment, smaller than life. Der Skandal des ungewirbelten Beins erinnert daran, wie verpönt es heute im Aerobic-Pop ist, wenn ein Ausdruck, eine Geste entwischt und nicht als Ausweis von Sexyness, Fitness und kreativer Disziplin verwertbar ist. Was hätte wohl Heidi Klum in einer strengen TV-Kammer dazu gesagt?
Divjak: Zugegeben, Madonna als prominente “Berufsberühmtheit”, wie Karl Kraus diese medialen Erscheinungen genannt hatte, interessiert mich wenig bis gar nicht (mehr). Auch ihr Superbowl-Auftritt – bei dem sie neben jenem erwähnten Move noch den einen oder anderen sympathisch-improvisierenden Stolperer hatte – ist mehr oder weniger spurlos an mir vorbeigegangen.
Pop als Authentizitäts- und Perfektionsmaschinerie ist und bleibt eben ganz unspektakulär eine Blödmaschine im Sinne des deutschen Medienkritikers Georg Seeßlen. Was allerdings einen näheren Blick wert ist, ist die Monstrosität der Inszenierung, im Rahmen derer die lippensynchrone, durchchoreografierte Performance stattgefunden hat: das szenografische Megamonument als Ausdruck der Gigantomanie unserer Zeit.
Längst haben Stagedesigner wie Mark Fisher unser aller Vorstellungen von Live-Popereignissen modelliert. Der hampelnde, sich verausgabende Massenmusikus ist im Rahmen solcher Bühnenkonstrukte eine verschwindende Größe, angewiesen auf das televisionäre Vergrößerungsglas, das seine Robotnik erst konsumentenorientiert aufbläht, mit etwas Starglitter auflädt und dann auf unser aller Projektions-Schnittstellen wirft. In diesem Zusammenhang ist ein unretouschiertes Close-up einer Image-Illusionskoryphäe wie Madonna ein willkommenes Geschenk.
[DER STANDARD | Printausgabe, 18./19.2.2012]