Was für ein Anachronismus!

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Der Nationalismus ist eine Ideologie, die einen Feind braucht; er kann ohne ein anderes, gegen das er sich stellt, nicht existieren, wer oder was auch immer dieses andere sein mag.“ Slavenka Drakulic

Die mediale Landschaft wird aktuell von politischer Seite mit groben Werkzeugen bearbeitet, radikalisierte Rückgriffe und sprachliche Übergriffe garantieren Aufmerksamkeitseffekte und das erwünschte Agenda-Setting.

Was aktuell Form angenommen hat, ist ein offener Kampf um die Konstruktion der Deutungshoheit. Rechtspopulistische und extreme Schachzüge, die auf unsere bewusste und unbewusste Sicht auf die Wirklichkeit einwirken, versuchen, Alltag und Staat nach einem bestimmten Wertemuster zu organisieren. Und es ist keine Frage: Das ihnen zugrundeliegende Modell ist ein ewig gestriges.

Wohin wir auch schauen und hören: Allerorts findet das politische Ausloten von Begriffssetzungen statt, wird an der Veränderung des wieder Aussprechbaren gearbeitet, wird perfides, krudes oder schlichtweg dumpfes Denken etabliert. Überall kommen Nationalismus und Separatismus zur Anwendung, werden Ablenkungsmanöver, Finten und Beweisführungen durch mediale Inszenierungen platziert. Die Wirkungen sind nachhaltig katastrophal, haben diese Aktionen doch normierenden Charakter.
Mit jedem gezündeten Wort, mit jeder weiteren Platzierung historischer Referenzen (beziehungsweise der Leugnung eben dieser), sickert die nächste Dosis Überzeugung in den Wahrnehmungsbereich der MedienkonsumentInnen.

Stereotype und Vorurteile sowie Rückbezüge auf menschenverachtende Weltbilder und auf vermeintlich überschaubare(re) Gesellschaftssysteme als Lösungsversuche für die komplexe, das Individuum überfordernde Realität, verfremden vermeintliche Gegebenheiten und tragen zur weiteren Identitätskonstruktion und Isolierung der „anderen“ bei.
Durch Wirklichkeitsfilter betrachtet wird Grobes entfesselt, Vernichtendes konstruiert. Die Produktion von Asymmetrien und Ungleichheitseffekten wird aktuell ideologischerweise groß geschrieben.
Und das Prinzip Hoffnung wird durch das Prinzip Verachtung ersetzt.

Zunehmend wird mit einer „Schauderwirklichkeit“ (Paul Watzlawick), mit negativen Überzeugungen hantiert, das verbale Feuer eröffnet. Krisen werden ausgerufen, Schuldige und Feinde benannt, vermeintliche Lösungen gutgeheißen: Es dröhnt der Ruf nach Ordnung, systematischer Typisierung und Ausgrenzung, während der Staatsapparat sukzessive umgefärbt wird: Dasselbe alte Proporzdenken in Blau wird als politische Alternative verkauft. Und „die Nachfolger der Vorläufer der Nazis“ (Doron Rabinovici) geben zunehmend den Ton an.

Der Wunsch, eine durchschaubare, eine übersichtliche Welt zu schaffen, mündete bereits einmal in der katastrophalen Überzeugtheit, alles Ambivalente vernichten, das Uneindeutige, die Fremden, die Andersartigen aus dem Blickfeld, als Unerwünschtes aus der Welt schaffen zu müssen.
Was für ein Anachronismus, der europaweit wiedererstarkende Nationalismus! Statt gemeinsam eine moögliche bessere Zukunft für alle zu gestalten, finden wir uns heute in einer prekären, radikalisierten technokratischen Kontrollgesellschaft wieder, in der das Flüchtige und jede Andersheit als Bedrohung wahrgenommen werden. – Die Unkontrolliertheit des Lebens und der Welt aber lässt sich nicht bannen.

(Einige Gedanken dieses Textes werden auch in Paul Divjaks kürzlich erschienenem Essay „Vorbereitungen auf die Gegenwart“ (Edition Atelier) aufgegriffen: ein Plädoyer für eine neues, respektvolles, ein „unbändiges Denken“, das zur Gestaltung von positiven gesellschaftlichen Veränderungsprozessen beiträgt.)

[wina - 03.2018]



Sommernormalität in Warschau

POLIN - Museum of the History of Polish Jews ©Paul Divjak

POLIN – Museum of the History of Polish Jews

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 08_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»I’m passionately involved in life; I love its change, its color, its movement.
To be alive, to be able to see, to walk, to have houses, music, paintings – it’s all a miracle.« Arthur Rubinstein

Wir sitzen im Speisewagen nach Warschau und verkosten uns durch die Speisekarte. Es gibt polnisches Frühstück, dann griechischen Salat, später Piroggen, Apfelspalten und viel Kaffee. Die Landschaft zieht vorbei. In der Ferne entdecken wir in der tschechischen Ebene scheinbar verlassene, karge, gerüstartige Siedlungen, immer mehr. Der nähere Blick zeigt: Es handelt sich um Dörfer, die der Juni-Tornado verwüstet hat. Ganze Landstriche sind betroffen; zerdrückte, umgekippte Autos, geknickte Bäume, abgedeckte Häuser. Bagger bearbeiten Berge von Müll und Hausrat. Freiliegende Dachstühle werden repariert, die Feuerwehr ist im Einsatz, Menschen sind in verwüsteten Weingärten zugange. Dann mit einem Mal ist der Spuk unvermittelt vorbei; Wiesen, Felder, Wälder. — mehr —


R.I.P

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„I’m walking through deep water / I have no time to lose …“ Arthur Cave (2000-2015)

Ganz allgemein ist vom Verdrängen des Todes in unserer Kultur die Rede, dabei haben wir es auf der einen Seite mit einer Privatisierung des Sterbens und der professionalisierten, institutionalisierten Verwaltung des Todes und auf der anderen mit einer dauerhaften Präsenz des mediatisierten Sterbens zu tun.

Die Meldungen über Krieg, Terror, menschengemachte und naturbedingte Katastrophen, Flüchtlingselend und Hungersnöte gehören zum Medienalltag; der beständige Todes-Nachrichtenfluss kratzt an unseren Wahrnehmungsfiltern.

Der Tod ist allgegenwärtig in Nachrichten, Filmen, Games und Co.; die Unterhaltungsindustrie ist gerade zu besessen von Inszenierungen der Gewalt, des Kämpfens, Tötens und Sterbens. Und uns KonsumentInnen sind diese Repräsentationen des Todes wohl gleichsam Nervenkitzel und willkommener Bann, ganz so als ließe sich, – gleich einem techno-schamanistischen Schutzzauber –, der eigenen Sterblichkeit – zumindest eine Zeitlang – ein Schnippchen schlagen, die Todesangst ein wenig besänftigen. — mehr —


Auf der Suche nach neuen Erzählungen

"Lichtgrenze" beim Brandenburger Tor, Berlin (anläßlich 25 Jahre Mauerfall) ©Paul Divjak

“Lichtgrenze”, Berlin (2014)

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2016 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Tomorrows unitary world is in need of transcendence and liberation from a thinking in opposites.“ George Czuczka

Weltanschauungen lassen sich nicht verordnen. Aber es lassen sich gesellschaftliche Bedingungen schaffen, die zur Veränderung von tradiertem, vorurteilsbehaftetem Denken beitragen.

Wir sind überinformiert – und empfinden uns zunehmend als machtlos. Entscheidet man sich für den Medienkonsum, lassen einem Quantität und Komplexität des real existierenden Wahnsinns keine Verschnaufpause. Und die schlimmsten Bilder erreichen unser Bewusstsein gar nicht mehr. — mehr —


Holocaust-Memorial-Schrank

Öffentlicher Bücherschrank ©Paul Divjak

Öffentlicher Bücherschrank, Engadin

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 03_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»The year 1938 revealed a shameful fiasco of international diplomacy.«
Joseph Tennenbaum

Holocaust Memorial Day 2021: ein öffentlicher Bücherschrank, Bücher zur freien Entnahme; ringsum liegt tiefer Schnee. Seit Wochen haben die Buchhandlungen wie der gesamte Einzelhandel geschlossen, das öffentliche Möbel scheint wie eine bibliophile Fata Morgana, eine flirrende poetische Verheißung. Die schwere Türe, metallumrahmtes dickes Glas, öffnet sich sanft gleitend, lässt an einen riesigen Outdoor-Weinkühlschrank denken. Nahezu neue Taschenbücher, noch mit Preisschild auf dem Backcover, Bestseller vergangener Tage, feministische Literatur, antiquarische Bände, Bildbände, Nachschlagewerke, Kinderbücher; Bekanntes, Unbekanntes, Gewichtiges, Vergessenes aus verschiedenen Jahrzehnten. — mehr —