“Klappern Sie jetzt alle betagten Juden ab?”

©Czernin Verlag

©Czernin Verlag

[WINA - DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN | April 2013]

“Das Zeitalter der Verluste: Der neue Interviewband von Thomas Trenkler gibt Einblick in die Lebenswege von Holocaust-Überlebenden und Nachgeborenen.

Von Paul Divjak

Nie möchte man in eine Welt geboren sein, in denen Menschen so etwas wie den Holocaust ermöglicht haben, darin steckt eine tiefe Sehnsucht, eine Utopie. So könnte man es ausdrücken, den Filmemacher Werner Herzog paraphrasierend. Die Frage, ab wann wer gewusst hatte, was passierte, damals vor 75 Jahren, und wie man reagierte, wird von Thomas Trenkler in seinem Band “Das Zeitalter der Verluste” (Untertitel: “Gespräche über ein dunkles Kapitel”) immer wieder gestellt.

Scheint der Titel des Bandes zunächst etwas sachlich, distanziert, fast zynisch, erschließt er sich näher, wenn klar wird, dass er den Ausführungen von Ruth Klüger entlehnt ist, die daran erinnert, dass Journalisten stets jene Menschen des Kulturlebens interviewen, die „Erfolg“ hatten, und man dabei diejenigen vergesse, die „untergegangen sind“. Und das, so Klüger, seien „die meisten gewesen“: „Es war bei den meisten eben nicht so wie bei Brecht und Mann, die etwas anfangen konnten im Exil. Es ist eben umgekehrt: Es war ein Zeitalter der Verluste.“ Es war übrigens auch Ruth Klüger, die Trenkler bei Gesprächsauftakt den Satz „Klappern Sie jetzt alle betagten Juden ab?“ entgegengehalten hat.

Fünfzehn prominente Menschen, unter ihnen Erich Lessing, Emile Zuckerkandl, George Tabori, Gerhard Bronner, die den Holocaust als Kinder und Jugendliche erlebt und überlebt haben, kommen im Buch zu Wort; darunter fünf Frauen: Maria Altmann, Bettina Looram Schild, Ruth Klüger, Angela Hartig und Angelica Bäumer. Drei nachgeborene Künstler, André Heller, Airan Berg und Markus Kupferblum, komplettieren den knapp 250 Seiten starken Reader Wider-des-Vergessens.

Thomas Trenkler, Journalist und langjähriger Kulturredakteur des “Standard”, jüngst mit dem Bank-Austria-Kunstpreis für Kulturjornalismus 2012 ausgezeichnet, hat Interviews, die größtenteils vor dem Hintergrund der Restitutionsdebatte seit Ende der 1980er-Jahre entstanden und teilweise in “Der Standard”, “Nu” und “morgen” veröffentlicht worden sind, gebündelt und um Informationen zu den Personen und die Beschreibung der Umstände der näheren Begegnung ergänzt.

Im Vorwort schreibt der Autor: „Im Jahr 1960 geboren, fühle ich mich nicht mitschuldig an den Verbrechen der Nationalsozialisten, die sich als ‚Nazis‘ verniedlichten. Aber ich möchte mich mit der Zweiten Republik, in der ich aufgewachsen bin und lebe, identifizieren können“: Oral History als Akt des zivilgesellschaftlichen Handelns und der identitätsstiftenden Politisierung im Sinne des Politikwissenschafters Peter Gerlich, der in einem Vortrag am Österreichischen Wissenschaftstag 2011 feststellte: „Nationale Identität mag intellektuell konstruiert sein, wird aber auch persönlich erfahren und entfaltet dadurch eine große, nicht zuletzt politische Wirklichkeit.“

Berührend und bildgewaltig

Die Konstruktion von politischer Wirklichkeit ist 1938 auf monströse Weise erfahrbar geworden. Berührend und bildgewaltig werden in dem Buch Vertreibungs-, Flucht- und KZ-Überlebensgeschichten geschildert, berufliche Werdegänge mit Verfolgungszäsuren, die bis heute nachwirken, erläutert, nehmen Schicksalswege, Liebes- und Alltagsgeschichten unter der nationalsozialistischen Herrschaft, im Nachkriegsösterreich und im Exil Form an.

Systemisches, legalisiertes Unrecht und die Zufälle des Überlebens, ausgebliebene Restitution und die Geschäftspraktiken „eines gewissen Herr Leopold“ werden ebenso thematisiert wie der Status quo in der Zweiten Republik.

Auffällig ist der Lebenswille, der Ideenreichtum, die geistige Wendigkeit, das persönliche Engagement der Erzählenden. Bis ins hohe Alter sind sie beziehungsweise waren sie noch aktiv, verblüffend mitunter die Genauigkeit der Erzählungen, des Erinnerungsvermögens, die Präzision der Sprache.

„Wenn ihr sagt, tell it as it is, dann entzieht ihr euch der Verantwortung über das, was ihr sagt. Dann seid ihr nur ein Taperecorder. Aber wenn ihr sagt, it is as I tell it, dann fällt die Verantwortung auf euch“, merkt Heinz von Foerster an einer Stelle an.

Es geht um Sprache; implizit und explizit. Um die Sprache der Kindheit (Ruth Klüger) und Sprache als (verlorene) Heimat. Das Lernen einen neuen Sprache, die nie ganz beherrscht wird (Maria Altmann), das Verlernen der eigenen Sprache und das erneute Lernen der Muttersprache (Hans Landesmann). Es geht um das Erinnern der Sprache (Josef Burg) und um den bewussten Umgang mit Sprache (Gerhard Bronner).

Der Band sei oft „tieftraurig“, merkt Trenkler im Vorwort an, aber es gäbe „auch wunderbar komische Passagen voll von, wie man so sagt, ‚jüdischem Humor‘, einem Humor, der einen das Schicksal vielleicht eher ertragen ließ.“

Es geht um Sprache; implizit und explizit. Um die Sprache der Kindheit und Sprache als Heimat.
Immer wieder geht es um Sprache. Der in der Intro – mit vorangestelltem „wie man so sagt“ – unter Anführungszeichen gesetzte „jüdische Humor“, „der einen das Schicksal vielleicht eher ertragen ließ“, markiert eine Zuschreibung, ein Vorurteil, freilich politisch korrekt gesetzt. Das Adjektiv „arisiert“ etwa taucht in der Fragestellung ohne, an anderer Stelle mit Anführungszeichen auf. Der Begriff „Sammelwohnung“ findet sich ohne Anführungszeichen, und das Wort „Anschluss“ wird in deskriptiven Textpassagen, in Fragen und in Erzählungen jeweils unterschiedlich verwendet.

Diese Tatsachen könnten als formale Lappalie, als Frage des Lektorats abgetan werden. Sie lassen sich aber auch auf einer anderen Ebene lesen: als Nachhall und (soziokulturelle) Unsicherheit in Bezug auf die Sprache des Dritten Reiches, wie Victor Klemperer sie in LTI. Notizbuch eines Philologen beschrieben hat.

„Worte können sein wie winzige Arsendosen: Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung da“, stellt Klemperer fest.

Und das Gift wirkt mitunter bis ins Heute. – Gerade deshalb ist “Das Zeitalter der Verluste” ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der österreichischen Vergangenheit und Gegenwart, ein in seiner Veranschaulichung der Zeitgeschichte durch individuelle Lebensbögen ebenso bewegender wie zukunftsweisender Band von Gewicht und ein engagierter Nachdenkanstoß für die Arbeit am kollektiven Gedächtnis.



Eine Landvermessung mit Soundtrack

Atlas Austria – Architekturfotografie von Margherita Spiluttini im Architekturzentrum Wien

[In: werk, bauen + wohnen, 09/2007]

Die bekannte Daguerreotypie vom Boulevard du Temple, Ursprungsmotiv der Genealogie der Fotografiegeschichte, zeigt einen menschenleeren Boulevard. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war der Strassenzug voller Menschen, Pferden, fahrbaren Untersätzen. Die extrem lange Belichtungszeit allerdings liess jegliches Leben verschwinden. Bewegung erzeugt Unschärfe und führt schliesslich zu Unsichtbarkeit. (Lediglich ein Mann, der längere Zeit dieselbe Position innehatte, hinterliess unbeabsichtigt sichtbare Spuren seiner Präsenz.)

Auch in Margherita Spiluttinis Bilderwelt, in ihr Archiv präziser Bestandsaufnahmen des Hoch- und Tiefbaus in der Disziplinar- und Kontrollgesellschaft, schreibt sich der Mensch zumeist durch seine Abwesenheit ein. Das fotografische Dispositiv bleibt menschenleer. Die Bewohner der Bauten, die Benutzer der architektonischen Oberflächen waren entweder zum Zeitpunkt des Lichteinfalls zwischen Öffnen und Schliessen des Verschlusses tatsächlich nicht anwesend, oder sie sind es letztlich nicht mehr. Privathäuser, öffentliche Gebäude, Industriebauten, Zweckarchitektur: allesamt Zeichen der Zeit, Repräsentationen von Machtverhältnissen, von Menschen geschaffen. Spiluttini betreibt mit ihrer Fotografie ausführliche Motivforschung in der Alpenrepublik. Ihre menschenverlassenen Settings könnten mitunter den flüchtigen Schatten des literarischen Personals einer Elfriede Jelinek Herberge sein.
— mehr —


Forschungsreise an den Anfang der Architektur

Zur Ausstellung «Architektur beginnt im Kopf» im Architekturzentrum Wien

Architektur

[werk, bauen + wohnen 1/2-2009]

Manche greifen zum Gewehr, um anhand der Einschusslöcher Formfindung zu betreiben und zu Deleuze oder Foucault, um die Ideenfindung zu beschleunigen (R & Sie(n)). Andere züchten im grossen Stil Orchideen im Büro (Lacaton & Vassal) oder widmen sich dem Spiel mit Lego-Steinen, um bisher unentdeckte Synapsenverbindungen auszuloten (Edge Design Institute). Mancher sind die besten Gedanken stets im Liegen gekommen (Lux Guyer), für eine andere nahm der offene Kamin, an dem sie mit ihren MitarbeiterInnen diskutierte, eine wesentliche Schlüsselfunktion im Rahmen des «kleinen sozialistischen Projekts» und des konkreten Entwurfsprozesses ein (Lina Bo Bardi).

Architekten ticken verschieden. Fest steht, dass der Anfang der Idee, der Beginn der Genealogie eines einzelnen Projekts oder der gesamten Arbeit, architekturgeschichtlich zumeist im Dunklen bleibt. Dieser Tatsache wollte die Kuratorin Elke Krasny bewusst etwas entgegensetzen. Sie ist den Spuren des persönlichen Rituals, der ureigenen Herangehensweise an den Schaffensprozess gefolgt. Krasny hat dem Wie des Tuns nachgespürt, und präsentiert nach zweijähriger Feldforschung, unterstützt von Gudrun Hausegger und Robert Temel, eindrückliche und aufschlussreiche Ergebnisse im Architekturzentrum Wien (Az W). — mehr —