Radikale Beschleunigung

Spinning the World ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 3_2017 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“World, hold on.” Bob Sinclair

Ein neues Narrativ wird über die Vereinigten Staaten, wird über die Welt gestülpt. Es geht Schlag auf Schlag. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht.

Der Milliardär, der sich als Homo Politicus verkleidet hat, gibt ein Tempo vor, als gälte es die Demokratie noch im ersten Firmenquartal in eine Autokratie zu verwandeln. Im Fokus: die eigenen Dividenden, jene der engsten Vertrauten und die Überzeugtheit, dass die reduzierte Darwin-Überlieferung des Survival of the Fittest ein Naturgesetz sei. Das Beste, Stärkste, Größe trägt den Sieg davon. Und es geht um nicht weniger als das Etablieren von Kontrolle und eine von rechter Ideologie motivierte Ordnung, in der Inklusion und Exklusion Veränderung erfahren.

Die radikale Beschleunigung der politischen Entscheidungen, ihrer Verlautbarung und Exekution ist neu in der Geschichte. Begleitet vom Twitter-Dauerfeuer verbaler Blendgranaten stellen die präsidialen Dekrete nicht nur bewusst polarisierende Hochgeschwindigkeitsnews-Geschosse dar, sie etablieren gezielte Eingriffe und Maßnahmen, die in ihrer ungeheuren Monstrosität erschüttern und bezüglich der Interpretation und Aneignung der Staatsgewalt schockieren. (Und trotzdem loten sie nur das Terrain aus, sondieren, was möglich ist.)

Die Vorgangsweise erzeugt freilich exakt jene Bilder, die von einer Realität erzählen, die es in der radikalisierten Doxa (u.a. als „zivilen Ungehorsam, Illoyalität, Verrat“, u.a. auch das Motiv des „Mobs auf der Straße“) zu bekämpfen gilt: SenatorInnen, Gouverneure, RichterInnen, WissenschaftlerInnen und andere VertreterInnen der Zivilgesellschaft erklären den Widerstand, Menschen gehen auf die Straßen, besorgte BürgerInnen, Betroffene und Sich-Solidarisierende protestieren in vielen Städten gegen diese Politik – und für Freiheit, Gleichheit und Mitmenschlichkeit.

Kein Wunder, dass journalistisch pausenlos der Versuch unternommen wird, die Machtdemonstrationen und –interventionen jenes Mannes und seiner Berater zu verstehen. Aktuelle Schritte und Reaktionen werden kommentiert, mögliche Zukunftsszenarien erstellt; Kommentare, Analysen, Interpretationen, Interviews. Die Nachrichtenschichten überlagern einander. Und es fällt schwer, ist nachgerade unmöglich, mit allem Schritt zu halten; die Ereignisse laufen parallel, überschlagen sich.
Während immer weiteres an die Oberfläche dringt, bleibt vieles unbemerkt, völlig ohne Medien-Coverage, oder einfach aufgrund unserer individuellen Kapazitäten im Dunklen.

Überhaupt ist es, als wachse das Dunkle bedrohlich. Es hagelt historische Vergleiche. Und war Humor zunächst eine Möglichkeit, dem Phänomen zu begegnen, so scheint nun an der Teflon-Figur mit CI-Frisur, jenem ob der Banalität des Bösen schier unglaublichen Präsidenten-Darsteller, jegliche Kritik abzuprasseln. (Oder vielmehr: Scheint er sie sich einzuverleiben.)
Der popkulturellen Karikatur eines comichaften spätkapitalistischen Bösewichts ist nur mehr schwer mit Mitteln der Überzeichnung beizukommen. Die Realität hat die Satire überholt. Es ist, als handle es sich um eine übermannsgroße Medien-Projektion, die gegen die Kultur antritt, die sie hervorgebracht: als Business-Cyborg, der von den pervertierten Stereotypen des amerikanischen Traums strotzend, das letzte Kapitel eines nationalistischen Erdölkapitalismus aufschlägt; Turbo-Backlash. Produktivität ist alles, und Xenophobie rules!

Die Jagd nach immer mehr Geld, und das „Vernichten“ anderer, ist geprägt von Argwohn Verachtung und rastlosem Getriebensein; das Tempo wächst.
Die im gesellschaftlichen System Zurückbleibenden, die Schwachen, die Armen, die Langsameren, die „Anderen“ interessieren nicht, bzw. nur als Zahlen in den Statistiken, auf Basis derer sich weiterhin ordentlich abcashen lässt.

Heute erklären CEOs und Topmanager in Wirtschaftsmagazinen stolz, wie wenig Schlaf sie bräuchten. Dies gilt in einer Zeit, in der 24/7 Stimuli auf uns einprasseln, als Statussymbol und erstrebenswert. Schläfst du nicht, dann bist du wer, bleibst im Rennen und wettbewerbsfähig. Und wer länger schläft, wird folglich als Minderleister verachtet.

Auch vom derzeitigen US-Präsidenten ist bekannt, dass er mit nur drei, vier Stunden Schlaf auskommt, deshalb „könne er auch mehr arbeiten …“

[wina - 3.2017]



Die Schönheit der Leere

Museum of Emptiness, St.GallenWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2016 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„There are moments in our lives, there are moments in a day, when we seem to see beyond the usual.“ Robert Henri („The Art Spirit“)

In St. Gallen hat die in Israel geborene und in der Schweiz lebende Künstlerin Gilgi Guggenheim dieser Tage ihr Museum der Leere eröffnet. Einen ganz speziellen Ort, der durch Abwesenheiten glänzt und dazu einlädt, die Fülle der Leere zu erleben. — mehr —


Spuren der Vergegenwärtigung

Antlantik ©Paul DivjakWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2012 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“In der Spur werden wir der Sache habhaft;
in der Aura bemächtigt sie sich unser.”
Walter Benjamin

Von Puig del Mas aus erstreckt sich die Route, die seit 2007 offiziell Walter-Benjamin-Weg genannt wird – Chemin Walter Benjamin auf der französischen, Ruta Walter Benjamin auf der spanischen Seite.

Entlang eines kleinen Flüsschens ginge es von Banyuls-sur-Mer, Richtung Puig del Mas, wo sie die obere Abzweigung genommen hätten. Über einen kleinen Parkplatz, vorbei an Einfamilienhäusern, führe der Weg in die Berge, sagt mein Freund Aaron.

Walter Benjamin sei auf seiner Flucht vor den Nazis langsam unterwegs gewesen, sehr langsam. Der 48-jährige, herzkranke Mann, von seiner Gefangenschaft und dem Exil gezeichnet, habe den beschwerlichen Weg im französisch-spanischen Grenzland mit einer schweren Aktentasche aus Leder zurückgelegt, erzählt Aaron. Diese Tasche sei sein Ein-und-alles gewesen, in ihr habe er ein Manuskript aufbewahrt, das er für wichtiger als sein Leben erachtet habe. — mehr —


Die Stille zwischen den Zeilen

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 07+08_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Vienna never left my heart“ (Ruth Weiss)

Wir sitzen in einem Innenstadtcafé, mein Freund, der Literat, und ich. Am Nebentisch gibt der französische Soziologe und Philosoph Didier Eribon, der mit seinen Memoiren Rückkehr nach Reims, Roman und soziologische Studie gleichermaßen, aktuell länderübergreifend Erfolge feiert, eben ein Interview. („Was schwierig war, war nicht die Homosexualität, sondern vielmehr die Tatsache, aus dem Arbeitermilieu zu kommen“, sagt er.)
Eribon ist mit Mitte 60, im besten Alter, die Aufmerksamkeit und Anerkennung, die ihm zukommt, die Aufnahme seines Werks in den Gegenwartskanon zu genießen. — mehr —


Die Bilder können ja nichts dafür

Kunsthaus Zürich

Kunsthaus Zürich, Sammlung Merzbacher

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 11_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

“Die Zukunft ist mir der Lebensweise der Viren näher verwandt als mit der des Menschen oder seiner Denkmäler.” (Emanuele Coccia)

Das offizielle Zürich ist stolz, wurde doch jüngst der Erweiterungsbau des Kunsthaus Zürich, der jahrelang für Diskussionsstoff gesorgt hatte, feierlich eröffnet. Auf dem Programm standen Previews für die Financiers und VIPs, exklusive Dinners für Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft und Kultur – und ein Open-House-Weekend für die Bevölkerung. Nach der obligaten Covid-Zertifikatsüberprüfung samt Identitätscheck darf das massive Portal, das anmutet wie das repräsentative Entree einer Schweizer Großbank, betreten werden. Im riesenhaften Foyer herrscht lebhaftes Getümmel – ganz großer Luxusbahnhof, Eventcharakter inklusive. Menschen drängen sich maskenlos dicht aneinander durch die hohe Eingangshalle, das massive Treppenhaus, die Ausstellungsräumlichkeiten, die endlosen Flure, vorbei an den Schätzen der Kunstgeschichte und durch die aktuelle Ausstellung Earth Beats, eine Themenschau zum Wandel des Bildes der Natur in der Kunst. — mehr —