Die Schönheit der Leere

Museum of Emptiness, St.GallenWINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 10_2016 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„There are moments in our lives, there are moments in a day, when we seem to see beyond the usual.“ Robert Henri („The Art Spirit“)

In St. Gallen hat die in Israel geborene und in der Schweiz lebende Künstlerin Gilgi Guggenheim dieser Tage ihr Museum der Leere eröffnet. Einen ganz speziellen Ort, der durch Abwesenheiten glänzt und dazu einlädt, die Fülle der Leere zu erleben.

Im Zentrum der Stadt an der Stainach, auf einer kleinen Anhöhe kündet, schon von Weitem sichtbar, der Schriftzug: „MoE“ von der Ankunft eines kleinen Wunders in der zeitgenössischen Museumslandschaft. Gleichsam wie auf der Reling eines gestrandeten Schiffes thront es da in einem Jugendstilhaus: Guggenheims Museum of Emptiness; unaufdringlich, präsent.

Hinter den großen grünen Toren einer ehemaligen Werkstatt gilt nun der Leere alle Aufmerksamkeit. Als Gegenentwurf zur permanenten Reizüberflutung und Überfülle der Gegenwart – der grellen Bilderfluten und Informations- und Nachrichtenströme und all der urbanen Reize, die auf uns einwirken – lädt der Ort zur Kontemplation ein. Dazu, in der Reduktion anzukommen, sich mit allen Sinnen auf die Leere einzulassen, sich in ihr zu erleben, Teil zu werden und teilzuhaben an einem Phänomen, der Erforschung seiner vielfältigen Manifestationen und seiner sinnlichen Erfahrbarkeit.

Zur Eröffnung haben im Rahmen einer Molekülinstallation Duftspuren von Iris, Lorbeer und Ysop ihre Wirkung entfaltet, dem hellweißen Raum eine zarte olfaktorische Färbung gegeben. An einer Hörstation gab eine assoziative Soundcollage, eine Polyphonie von Stimmen unterschiedlichsten Alters, Auskunft über persönliche Zugänge zum Begriff der „Leere“ – und den Unterschied zum „Nichts“ – sowie der Idee eines „Museums der Leere“. (Sie möchte sich auf den Boden legen, denn nur so sei die Leere auch erlebbar. Denn stünde sie, würde es sich ja nicht mehr um Leere handeln, bemerkt etwa ein 12-jähriges Mädchen.)
Nichts existiert für sich alleine, alles ist verbunden. Und die Menge füllt die Leere, schwingt als schöpferisches Miteinander, als „Beispiel für den Modus positiver Beziehungen“ (Arno Stern).

Am Abend der Eröffnung saßen die Menschen auf der Bank, in der Mitte des Raumes. Sie durchwanderten ihn, suchten neue Haltungen, Positionen, verharrten, beweg- ten sich erneut. Sie schwiegen, kamen ins Gespräch, begannen sich auszutauschen.

Bezieht sich im Buddhismus die „Leere“ auf die Wechselwirkung aller Phänomene, so wurde hier, im St. Galler Museum, inmitten all der Kunstinteressierten eine Resonanzerfahrung spür- und erlebbar; ein Happening der Gegenwärtigkeiten, ein hybrider Aktions- und Erfahrungsraum der freudvollen Gestimmtheit.
Gemeinsam gestaltete man die Leere, die Aktivitäten verdichteten sich. Der Museumsraum wurde gleichermaßen zur dreidimensionalen Projektionsfläche, er spiegelte wider, was die BesucherInnen in ihn einbrachten.
Die einen loteten schweigend Resonanzen aus, ein anderer fühlte sich an Landstriche des gelobten Landes erinnert. Was Form annahm, waren atmosphärische Schönheitsgebilde, temporäre Wechselwirkungen zwischen Präsenzen und Absenzen: ein beglückendes Miteinander, ein neues Symposion der Sinne, bei dem sich die Leere mit Faszination und Freude füllte.

Gerade in einer Gesellschaft wie der unsrigen, die derart von der Herrschaft eines „Kreativitätsdispositivs“ geprägt ist, wie der Soziologe Andreas Reckwitz festgestellt hat, könnte ein solches Museum dazu beitragen, ungeahnte neue Praktiken, Denkweisen und möglicherweise sogar Lebensformen zu erschließen und altbekannte Distinktionsmechanismen zu überwinden.

Das MoE, ein Ort, an dem die Kunst nicht mehr einfach konsumierbares Produkt ist, an dem sie sich den normativen Bewertungen der Quoten und Rankings der Marktlogik entzieht, eignet sich freilich auch dazu, die Institution „Museum“ auf ihre Bedeutung für das Hier und Jetzt und zukünftige Gesellschaften hin zu befragen.
Die „Leere verschenkt sich“, sagt die Initiatorin und Kuratorin Gilgi Guggenheim, die sich bereits seit einigen Jahren künstlerisch mit der Suche nach der Darstellbarkeit von Leere befasst. Die BesucherInnen jenes Abends jedenfalls wussten dieses Geschenk zu schätzen und nahmen es dankbar an.

[wina - 10.2016]



Sommernormalität in Warschau

POLIN - Museum of the History of Polish Jews ©Paul Divjak

POLIN – Museum of the History of Polish Jews

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 08_2021 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

»I’m passionately involved in life; I love its change, its color, its movement.
To be alive, to be able to see, to walk, to have houses, music, paintings – it’s all a miracle.« Arthur Rubinstein

Wir sitzen im Speisewagen nach Warschau und verkosten uns durch die Speisekarte. Es gibt polnisches Frühstück, dann griechischen Salat, später Piroggen, Apfelspalten und viel Kaffee. Die Landschaft zieht vorbei. In der Ferne entdecken wir in der tschechischen Ebene scheinbar verlassene, karge, gerüstartige Siedlungen, immer mehr. Der nähere Blick zeigt: Es handelt sich um Dörfer, die der Juni-Tornado verwüstet hat. Ganze Landstriche sind betroffen; zerdrückte, umgekippte Autos, geknickte Bäume, abgedeckte Häuser. Bagger bearbeiten Berge von Müll und Hausrat. Freiliegende Dachstühle werden repariert, die Feuerwehr ist im Einsatz, Menschen sind in verwüsteten Weingärten zugange. Dann mit einem Mal ist der Spuk unvermittelt vorbei; Wiesen, Felder, Wälder. — mehr —


Die Stille zwischen den Zeilen

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 07+08_2018 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Vienna never left my heart“ (Ruth Weiss)

Wir sitzen in einem Innenstadtcafé, mein Freund, der Literat, und ich. Am Nebentisch gibt der französische Soziologe und Philosoph Didier Eribon, der mit seinen Memoiren Rückkehr nach Reims, Roman und soziologische Studie gleichermaßen, aktuell länderübergreifend Erfolge feiert, eben ein Interview. („Was schwierig war, war nicht die Homosexualität, sondern vielmehr die Tatsache, aus dem Arbeitermilieu zu kommen“, sagt er.)
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Auf der Suche nach neuen Erzählungen

"Lichtgrenze" beim Brandenburger Tor, Berlin (anläßlich 25 Jahre Mauerfall) ©Paul Divjak

“Lichtgrenze”, Berlin (2014)

WINA – DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN 5_2016 | URBAN LEGENDS | PAUL DIVJAK

„Tomorrows unitary world is in need of transcendence and liberation from a thinking in opposites.“ George Czuczka

Weltanschauungen lassen sich nicht verordnen. Aber es lassen sich gesellschaftliche Bedingungen schaffen, die zur Veränderung von tradiertem, vorurteilsbehaftetem Denken beitragen.

Wir sind überinformiert – und empfinden uns zunehmend als machtlos. Entscheidet man sich für den Medienkonsum, lassen einem Quantität und Komplexität des real existierenden Wahnsinns keine Verschnaufpause. Und die schlimmsten Bilder erreichen unser Bewusstsein gar nicht mehr. — mehr —