Über die Dörfer

©Paul DivjakWERK, BAUEN + WOHNEN | KOLUMNE | PAUL DIVJAK

Aus Heuersdorf, südlich von Leipzig gelegen, hatte man im Herbst 2007 die mittelalterliche Emmauskirche abtransportiert. Mit Hilfe eines Schwertransporters wurde das Gotteshaus in einen zwölf Kilometer entfernten Nachbarort verfrachtet. Die über 750 Jahre alte Kirche musste dem Braunkohleabbau weichen. Im Interesse der Allgemeinheit hatte der Verfassungsgerichtshof die Zerstörung von Heuersdorf genehmigt. Durch die Jahrhunderte von Zivilisation bestimmte dörfliche Struktur wurde zum Abbruch freigegeben, die Bevölkerung umgesiedelt. Bauernhöfe, Wohnhäuser, das Gemeindezentrum und der Friedhof werden in absehbarer Zeit verschwunden sein. Dann wird nichts mehr an die einstige Ortschaft erinnern. Und monströse Maschinen dominieren das Bild einer kargen Wüstenlandschaft. Ein Foto, das ein Hobbyfotograf im September des vergangenen Jahres in Heuersdorf aufgenommen hatte, zeigt das Detail eine Telefonzelle der Deutschen Telekom, an einer verwaisten Dorfstrasse. Auf dem Display des Apparates steht: «Entschuldigung – Nur Notruf möglich.»

Gleichsam als dokumentarischer Ruf, der auf das sukzessive Verschwinden eines Ortes aufmerksam macht, lesen lässt sich auch der Bildband «Higley» des in Amerika geborenen und seit langem in Salzburg lebenden Fotografen Andrew Phelps. Ort der Bestandsaufnahme ist Higley, bei Phoenix, Arizona. Die Bilder der sehr persönlich motivierten und doch von einem behutsam distanzierten Blick geprägten Langzeitstudie über seinen ehemaligen Heimatort erzählen davon, wie Menschen leben, und wie der Prozess von Zersiedelung und Grundstücksspekulation Landschaft und unmittelbaren Lebensraum verändert.
Higley, einst eine von Landwirtschaft bestimmte Kleinstadt, stellt sich heute als zerklüfteter, vom Prekariat geprägter Landstrich einerseits und typisch amerikanische, konturlose Vorstadt andererseits dar. Hier dominieren karge Landschaft, Holzbaracken, provisorisch errichtete Stallungen und vereinzelte Häuser, umgeben von wild wuchernden Feldern. Um ein wenig Halt zu gewinnen, nehmen die Menschen Posen ein, die sich im Alltag bewähren. Sie verharren in ihrem Umfeld, vor Vertrautem, mit Verwandten.

Phelps zeigt leerstehende Häuser, menschenverlassene Räume. Durch die Ritzen des fotografischen Dispositivs dringt der Staub der vergangenen Jahrzehnte. Familienportraits zieren die Wände, Devotionalien schmücken die Winkel. Und immer wieder fällt der Blick auf gerahmte Landschaftsdarstellungen, idealisierte Projektionen unberührter Natur, zivilisatorische Entwürfe von Wildnis.

Vor einem Caterpillar sitzt ein Mann mit Cowboyhut. Sein T-Shirt ist staubbedeckt, er lächelt. An anderer Stelle verlaufen Baggerspuren im Sand. In Sichtweite werden Gebäude hochgezogen. Es sind Bürgersteige entstanden, Beleuchtungskörper installiert, Grasteppiche verlegt und Gated Communities errichtet worden. Mit genormten Vorgärten, und Fusswegen, die zu den Eingangstüren führen. «Smile you are being watched!», legt ein Schild in einem Bild nahe. Schöne neue Wohnwelt. Hier ist das Pendler- und Pensionistenglück zu Hause. Hier werden Träume von einem glücklicheren Leben wahr. Und es wird weitergebaut. Den Interessen des Marktes entsprechend, verändert sich ein Ort. Er wird zunehmend verwechselbarer mit dem nächstgelegenen, verschmilzt schliesslich via Freeways, Shopping Malls und Fastfood-Ketten zur Gänze mit ihm. Ein Phänomen unserer Zeit. Higley hat 2007 seinen Namen verloren. Es ist nun ein Teil von Phoenix.

Bei den Menschen, die Andrew Phelps in seinem Band portraitiert, könnte es sich auch um die ehemaligen Bewohner von Heuersdorf handeln. Die Gesichter und Haltungen legen Zeugnis ab von persönlicher Lebensgeschichte im Transit. Jenes Plakat, das ein Bewohner von Heuersdorf zuletzt in die Auslage seines kleinen Ladens geheftet hatte, würde sich auch im Fenster des verwahrlosten Holzhauses in Higley als passend erweisen: «Ich war ein Dorf».

[in: werk, bauen + wohnen, 3/2008]



Bonjour Tristesse

WERK, BAUEN + WOHNEN | KOLUMNE | PAUL DIVJAK

Die Temperaturen sind längst gefallen, die Stadt hat dicht gemacht. Sommerliche Veranstaltungsorte entlang des Wiener Donaukanals liegen brach. Die Gastgärten und Strand-Settings der so genannten Eventgastronomie bleiben unbelebt, wirken wie fluchtartig verlassen, präsentieren sich als verödetes Bauland.
Das Freiluftbecken des Badeschiffes ist leer gepumpt, und selbst die sonst grell orange leuchtende Wellblechummantelung, deren gesamte Länge die Logos einer Direktbank zieren wie blinde Bullaugen, wirkt ungewohnt ausgewaschen. Lediglich aus dem Rumpf hört man spätabends dumpfe Klänge. Die Menschen haben sich in den Bauch des Schiffes zurückgezogen.

Stühle lagern hinter schmutzigen Containern. Gestapelt zu hohen Türmen erinnern sie an eine ausgemusterte Kolonie der Hochsitze von Tennisschiedsrichtern. Bambustische und anderes Mobiliar liegt verstreut hinter einfach gezimmerten Holzwänden.
Ein zu einer Grillstation umfunktioniertes aufgeschnittenes Ölfass lässt an Zeiten denken, in denen hier Fisch gegrillt und gesalzen, mit etwas Zitrone beträufelt serviert wurde. Die Ratten, die sich für gewöhnlich an diesem Ort tummeln, gehen jetzt leer aus, sie müssen anderswo nach Nahrung suchen.
Baumaschinenlärm hüben wie drüben. Hier entsteht eine neue Landungsbrücke für den Twin City Liner, die direkte Wasserverbindung von Wien nach Bratislava. — mehr —


Die Kulissen Leben

Palace Hotel, St.Moritz ©Paul DivjakWERK, BAUEN + WOHNEN 6_2008 | KOLUMNE | PAUL DIVJAK

Wenn einem beim Spaziergang entlang eines glasklaren Baches in den Schweizer Alpen nicht seltene Wiesenblumen, sondern unvermittelt Golfbälle unterkommen, dann kann auch St. Moritz nicht mehr weit sein.

Ich nehme die Rolltreppe hinauf, direkt ins Zentrum der Gemeinde. Noch ein paar Schritte und das Portal des Palace Hotels gerät ins Blickfeld.

Verabredet zum Abendessen mit Freunden, bin ich mit meinen Gedanken ein paar Tausend Kilometer weit entfernt, in der Wüste, an einem möglichen Drehort, um genauer zu sein, und so öffne ich eine falsche Türe. – Mit einem Mal stehe ich im Wirtschaftstrakt des Hotels. Keine Vergoldungen, keine Verzierungen, keine schweren Vorhänge: ein karger Gang, schon länger nicht mehr ausgemalt, einfach beleuchtet; abgeschlagene Türen und rundum sichtbare Reduktion auf das Notwendigste. Fern sind die holzvertäfelten Decken, die hohen Säle, weitläufigen Räume und überbordenden Interieurs. Das koloniale Mobiliar, der historisierende Pomp, sämtliche Accessoires, die Exklusivität verheissen – jegliche Inszenierung des Mondänen: all das ist hier verschwunden. — mehr —


In der grauen Lagune

Mustersiedlung 9=12

Mustersiedlung 9=12   Foto: ©Pez Hejduk

WERK, BAUEN + WOHNEN | KOLUMNE | PAUL DIVJAK

Unterwegs mit dem Autobus nehmen wir zunächst einen kleinen Umweg durch das Weltall. Vorbei am Uranusweg, dem Mond-, und Juppiterweg geht es dann hinunter, direkt in Richtung eines kleinen irdischen Sumpfgebiets, das Jim Jarmusch zu «Down by Law» inspiriert haben könnte. Natürlich en miniature, alles viel kleiner hier, als drüben in Louisiana. Wir sind hier ja schliesslich in Österreich. In Hadersdorf, am Stadtrand von Wien, um genauer zu sein.

Kleiner, und viel lebensnaher als auf Fotografien, ist auch die «innovative Villenkolonie» (PR-Text), die enigmatische Mustersiedlung 9=12. Von Alfred Krischanitz initiiert, von insgesamt neun namhaften Architekten realisiert, der Betonindustrie ausstaffiert, und direkt am Friedhofsweg gelegen. Die Toten ruhen in unmittelbarer Nähe: sie machen keinen Lärm mehr. Das plötzlich einsetzende Getöse kommt von der nahegelegenen Westbahn. Exakt 9 Uhr 49. – Das muss der EuroCity nach Basel sein. — mehr —


Sie sind Modelle

 WERK, BAUEN + WOHNEN 8_2008 | KOLUMNE | PAUL DIVJAK

Imposant stehen sie da, Erscheinungsform 1A. Sie sind auf Eindruck bedacht, ihre Masse sind perfekt. Auch im Zeitalter des Computerdesigns gibt es sie noch, und sie verstehen zu überzeugen, wie eh und je. Proper und perfekt gebaut sind sie, international präsent.

Sie sind die Ersten, sie sind die Vorhut. Da wo sie sind, nimmt alles seinen Lauf. Sie stehen im Rampenlicht, sie markieren den Unterschied. Wenn sie die Blicke auf sich ziehen, wird Geschichte gemacht. Mit ihnen geht es voran, wird Grösseres konkret. Sie sorgen für Diskussion, erzeugen Vorstellungen von möglicher Realität, sie definieren den Kanon.

Sie akkumulieren Interessen, ihre Inhalte sind ideologisch definierte Projektionsflächen. Blickwinkel und Lesarten formen ihre Hüllen. — mehr —